Millionen winziger Spiegel lenken Licht ins Haus

Es ist kompliziert: Einerseits wollen wir so viel Tageslicht wie möglich von draussen in unsere Wohn- und Arbeitsräume holen, andererseits soll die Sonne nicht blenden und die Räume nicht aufheizen. Wie bekommt man all das unter einen Hut? Antworten aus Lausanne, Ludwigshafen und Innsbruck.

Helga Rietz
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Dies sind die trübsten aller Wintertage: Stadt und Land verschwinden unter dicken Wolkendecken. Von früh bis spät müssen die Lampen brennen, will man genug Licht zum Arbeiten haben. Und die sprichwörtliche Wintermüdigkeit greift seuchengleich um sich. So haben es in den letzten Tagen weite Teile der Schweiz erlebt. Gerade wenn das Licht der Sonne nur spärlich durchs Fenster rieselt, merken wir: Das natürliche Tageslicht motiviert, es stärkt und belebt.

Im Sommer stehen wir gleichwohl vor dem umgekehrten Problem: Dann werden Storen ausgefahren, Jalousien heruntergekurbelt und Schirme aufgespannt, um einerseits der Wärme, andererseits dem blendend hellen, direkten Sonnenlicht zu entgehen.

Manchmal muss man sich zwischen zu viel und zu wenig Sonne entscheiden. (Bild: woodleywonderworks via flickr.com / CC BY 2.0)

Manchmal muss man sich zwischen zu viel und zu wenig Sonne entscheiden. (Bild: woodleywonderworks via flickr.com / CC BY 2.0)

Das Streben nach Licht

Der Wunsch nach reichlich Licht und Sonne ist so alt wie die Kunst des Bauens an sich. Die Atrien der Römer, die grosszügigen Fenster im Obergaden gotischer Kathedralen, die monumentalen Oberlichter in den Bahnhofshallen des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder die charakteristisch gezackten Dächer flacher Fertigungshallen im 20. Jahrhundert – sie alle sind Zeugen unseres Strebens nach dem Licht.

Daran hat sich auch im Zeitalter universell verfügbarer künstlicher Beleuchtung nichts geändert. Dies nicht nur, weil elektrische Lampen kostspielig sind und Energie verbrauchen, sondern auch, weil das natürliche Licht dem künstlichen überlegen ist: Tageslicht macht leistungsfähiger, fördert das Wohlbefinden sowie die körperliche und seelische Gesundheit. Deshalb hantieren Architekten heute mit viel Glas, schaffen Durchbrüche nach draussen. Und wo das nicht geht, hilft die Ingenieurskunst: Sogenannte «light shelves» fangen vor der Fassade Licht auf und lenken dieses ins Haus hinein; ausgeklügelte Lamellenjalousien schützen vor der blendenden Sonne und sorgen zugleich für einen hellen Raum. Verspiegelte Röhren transportieren Tageslicht, das auf dem Dach eingefangen wird, meterweit durchs Haus.

Manche Architekten arbeiten auch mit beweglichen Spiegeln, die das Licht gezielt ins Innere umlenken – zu den spektakulären Beispielen gehört hier die Kuppel auf dem Bundestagsgebäude in Berlin. Ihre Spiegel werden so gesteuert, dass sie dem Verlauf der Sonne folgen und stets für optimale Lichtverhältnisse im Plenarsaal sorgen.

Doch haben alle diese Lösungen ihre Schwachstellen. Was tun, wenn das Bauwerk längst steht und nicht mehr im Sinn einer optimalen Tageslichtnutzung umgebaut werden kann? Und was, wenn Architekt und Bauherrschaft keine aus der Fassade ragenden Lichtsammler wünschen?

Trickreiche Mikrospiegel

Eine ebenso simple wie bestechend schöne Lösung für dieses Problem haben Forscher in der Arbeitsgruppe von Andreas Schüler an der EPFL in den letzten Jahren ausgearbeitet. Nun soll daraus ein Produkt werden. Die Idee ist es, Millionen winzige Spiegel direkt in eine Beschichtung für Fensterglas zu integrieren. Diese Mikrospiegel sollen das Sonnenlicht umleiten – und zwar derart, dass im Winter möglichst alles Licht tief in den Raum gestreut wird.

Im Sommer sollen dieselben Spiegel die dann störende direkte Sonnenstrahlung abschirmen, dabei aber genug Licht zum angenehmen Arbeiten hindurchlassen; all das ohne bewegliche Elemente, die im Jahresverlauf nachgeführt werden müssten und durch Stromverbrauch und Wartung zusätzliche Kosten verursachen würden. Und natürlich sollen die Mikrospiegel so gut wie unsichtbar sein, den Blick nach draussen nicht verstellen.

Dass all dies auf einmal gelingt, verdankt sich einer klugen Anordnung der Spiegel (siehe Grafik): Leicht konkav, streuen sie Licht, das unter flachem Winkel auftrifft, schräg Richtung Zimmerdecke. Treffen die Sonnenstrahlen im Sommer mit steilerem Einfallswinkel auf die Spiegel, werden sie zu einem grossen Teil auf schmale Metallstreifen gebündelt und von dort zurück nach draussen reflektiert. So kann das intensive direkte Licht der Sommersonne weder blenden noch die Räume aufheizen. Völlig transparent ist die Mikrospiegel-Anordnung nicht. Aber sie fallen erst beim Blick nach schräg oben oder weit nach unten ins Auge.

Diese Beschichtung für Fensterglas sorgt für hellere Räume:

Mikrospiegel lenken das Licht geschickt um.
Diese Beschichtung für Fensterglas sorgt für hellere Räume: - Mikrospiegel lenken das Licht geschickt um.

Am Nest, der Experimentierplattform für Gebäudetechnik der Empa, wird die Mikrospiegel-Beschichtung ab 2019 evaluiert und mit bereits erhältlichen, abschattenden Gläsern verglichen.

Für die Kommerzialisierung ihrer Idee haben sich die Forscher mit der BASF zusammengeschlossen, einem deutschen Chemiekonzern aus Ludwigshafen. An der EPFL habe man sich darauf konzentriert, das Konzept zu entwickeln und dessen Machbarkeit anhand von Prototypen zu überprüfen, sagt André Kostro, der im Rahmen seiner Dissertation die optischen Eigenschaften der mikrostrukturierten Folie simuliert und erste Prototypen hergestellt hat. Letztere funktionierten gut, sagt Kostro, «sie wurden aber im Labor hergestellt und sind nicht besonders gross.»

Jetzt gehe es um die Herstellung der Beschichtungsfolie in industriellem Massstab. Hierbei ist Perfektion gefragt, denn bei Fensterglas fallen selbst kleine Fehler auf: Das menschliche Auge sei äusserst sensibel und bemerke Unregelmässigkeiten auch auf grossen Fensterflächen sofort, sagt Andreas Hafner, der bei BASF Schweiz an dem Projekt arbeitet.

Ausserdem gelte es nun, aus der Idee konkrete Produkte zu entwickeln, sagt Kostro: Weil sich der Einfallswinkel des Sonnenlichtes massgeblich auf das Design der Mikrospiegel auswirkt, müsste im Grunde für jede geografische Breite eine neue Folie entwickelt werden, deren Spiegel präzise für die dortigen Verhältnisse optimiert sind. Hinzu kommt, dass die klimatischen Bedingungen jedes Standorts eine Rolle spielen bei der Frage, wie viel unerwünschte Wärme die Sonne in ein Gebäude trägt.

Schwer vorstellbar also, dass in Stockholm die gleiche Mikrospiegel-Beschichtung verwendet werden kann wie in Genf oder Madrid. Für jedes Bauvorhaben eine individuelle Folie herzustellen, wäre wiederum ökonomisch wenig sinnvoll. Deshalb planen die Forscher, ein kleines Sortiment verschiedener Folien für Standorte mit jeweils ähnlichen Bedingungen zu entwickeln.

Natürliches Licht bis in den Keller

Bei BASF geht man derweil noch einen grossen Schritt weiter. Die Vision der dortigen Ingenieure: ein Beleuchtungssystem für Innenräume, das so weit als möglich natürliches Licht nutzt – und sich dabei praktisch unsichtbar in die Fassade des Gebäudes einfügt. Zusammen mit Bartenbach, einer österreichischen Planungs- und Entwicklungsfirma für Beleuchtungssysteme und Licht-Design, hat ein Team unter der Leitung von Cristobal Garrido Segura dazu ein Fassadenelement entwickelt. Dieses transportiert das Tageslicht über einen versteckten Tunnel, der an den Innenseiten reflektierend beschichtet ist, von der Fassade aus weit ins Gebäude hinein. Dort, wo es gebraucht wird – etwa in Fluren oder innenliegenden Besprechungszimmern –, leitet eine spezielle Optik das Licht nach unten in den Raum.

Mehr Licht, bitte!

Mehr Licht, bitte! Mehr Licht, bitte!

Auf diese Weise liessen sich grosse Bürogebäude erhellen, aber auch Labore, Kliniken und sogar unterirdisch gelegene Räume, sagt Wilfried Pohl, der das Projekt auf Seiten Bartenbach leitet. Ein Prototyp wird gerade in Innsbruck, am Standort der Firma, getestet; 2019 sollen die ersten kommerziellen Systeme installiert werden. Sei es tagsüber hell genug, könne mit dem System ausschliesslich mit Tageslicht gearbeitet werden, erklärt Garrido Segura. Für das Arbeiten zu Randzeiten werden LED-Leuchten zugeschaltet, die auch direkt in den Beleuchtungskörpern untergebracht sein können. Auf diesem Weg lasse sich über die Hälfte des künstlichen Lichtes einsparen, betont Garrido Segura.

Auch mit zugeschalteten LED bleibe der Tageslicht-Effekt erhalten, sagt Pohl. Weil das natürliche Licht nicht nur in der Intensität, sondern auch in der spektralen Zusammensetzung und der Verteilung ständig schwanke, sei es schon technologisch kaum möglich, LED und Sonnenlicht so zu addieren, dass es in der Summe eine völlig konstante Lichtquelle ergebe. Eine solche Gleichförmigkeit sei aber auch gar nicht erwünscht: «Wir erhalten die Farben, die Dynamik und die Brillanz des natürlichen Lichtes», sagt Pohl und verweist auf den «gewaltigen emotionalen Effekt», den der Aufenthalt in einem natürlich beleuchteten Raum habe.

Ein fensterloses Büro wird mit dem Prototypen des Tageslichtsystems erhellt. Für den Ausblick nach draussen sorgt nicht etwa ein Fenster, sondern ein Bildschirm. (Bild: BASF, Bartenbach)

Ein fensterloses Büro wird mit dem Prototypen des Tageslichtsystems erhellt. Für den Ausblick nach draussen sorgt nicht etwa ein Fenster, sondern ein Bildschirm. (Bild: BASF, Bartenbach)

Gleichwohl fehlt der unverstellte Blick nach draussen. BASF und Bartenbach erkunden derzeit, inwieweit sich dieses Manko durch einen Bildschirm ausgleichen lässt, auf dem Kamerabilder der Umgebung laufen. «Das ersetzt kein richtiges Fenster», fasst Pohl die bisherigen Ergebnisse zusammen, «es hat aber einen Effekt. Man hat das Gefühl, nach draussen zu schauen – auch wenn man natürlich weiss, dass man drinnen sitzt.»

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