Architektur als Verhandlungssache

200 Architekturstudenten aus Lausanne bauen beim Toni-Areal gemeinsam ein offenes Haus aus Holz. Sie leben vor, dass Verdichtung in der Stadt ein kreativer Prozess des Aushandelns sein kann.

Walter Bernet
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Ein temporärer Vorschlag zur Nutzung des Raums unter Brücken. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Ein temporärer Vorschlag zur Nutzung des Raums unter Brücken. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Der Platz unter dem Eisenbahnviadukt zwischen dem Sheraton-Hotel und dem mächtigen Bau der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) auf dem Toni-Areal in Zürich-West war bisher gut genug, um Velos abzustellen. In den letzten Tagen haben schwitzende Architekturstudentinnen und -studenten der ETH Lausanne zu- und eingegriffen. Aus rund 22 Tonnen oder 22 Laufkilometern Holzlatten haben sie ein Gebilde geschaffen, das aus dem städtischen Leerraum unter einer wichtigen Verkehrsinfrastruktur ein fast schon intimes Spielzimmer macht, das bis Mitte Juni zum Verweilen, Diskutieren, Ausruhen, Zuhören einlädt – und zum Nachdenken über das Gestalten und Nutzen urbanen Raumes.

Lösungen statt Probleme

Der Kniff hinter dem Projekt «House 2» ist einfach, die Ausführung hingegen anspruchsvoll. Die 200 Studierenden hatten den Auftrag, ein gemeinsames «Haus» mit einem Dutzend Räumen zu gestalten. Zur Entwicklung dieser Räume taten sie sich in «Studios» zu rund 15 Personen zusammen, waren aber dann nicht frei, sondern hatten Vorgaben und Zwängen der Realität gerecht zu werden. Dazu gehörte das Aushandeln und Koordinieren der Einzelprojekte im Rahmen eines gemeinsamen Ganzen.

Man merkt: Es handelt sich um ein Projekt mit pädagogischem Hintergrund. Tatsächlich ist es Teil der Architekturausbildung im ersten Studienjahr an der ETH Lausanne und wird vom Atelier de la conception de l'espace, einem Laboratorium für Entwurf, Konstruktion und Forschung in der Architektur, betreut. Für dessen Leiter Dieter Dietz geht es darum, dank strukturiertem Arbeiten auch verrückte Ideen umsetzen zu lernen. «Die Studierenden sollen über Lösungen kommunizieren, nicht über Probleme», sagt er. Vorgegeben ist deshalb eine Struktur, in die sich die einzelnen Räume einfügen und die dadurch erst stabil wird.

Diese Struktur besteht aus hoch aufragenden Latten, die eine rund 50 Meter lange Wand unter der Brücke bilden und damit als Gegenstück zur ZHdK-Fassade einen neuen Raum definieren. Erst die Einbauten geben der Wand eine gewisse Festigkeit. Diese haben zum Teil klare Funktionalitäten – ein Kino, eine Küche, eine Treppe, die allerdings nur zum Beton der Brücke führt, eine tönende Plattform, auf der Talks und Symposien trotz Bahnlärm möglich sind. Zum Teil haben sie atmosphärischen Charakter – eine Gruppe von im Wind wie Gräser schwankenden Dachlatten, ein wellenförmiger Boden, der für ein Mittagsschläfchen taugt. Eine zusätzliche Auflage war, dass die in Lausanne vorgefertigten Holzelemente sich innert eines Tages in Container verpacken lassen. Nötig war am Ende ein halber Tag. Die Elemente werden übrigens wieder zurück nach Lausanne gebracht, wo sie nochmals für drei Monate auf einer Brache mit Buvette aufgebaut werden. Danach wird das Holz eingelagert – für den nächsten «House»-Bau.

Die Chancen der Verdichtung

In Zürich ist das Lausanner Projekt integrierter und konkret erlebbarer Bestandteil des Forschungsvorhabens «Counter City» des Departements Design der ZHdK, das von Jonas Voegeli, Dozent für visuelle Gestaltung, und dem Politologen Matthias Wyssmann, beruflich in der Kommunikation des städtischen Hochbaudepartements tätig, entwickelt wurde. Das Projekt «Counter City» setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass die grossen Städte in den nächsten Jahren enorm wachsen werden, dafür aber nur den heute vorhandenen Raum haben. Was ist, wenn Zürich wie prognostiziert in den nächsten Dezennien um 100 000 Leute wächst, wenn also auch die Stadt St. Gallen noch hineingepfercht wird?

Dichtestress ist die übliche Reaktion auf eine derartige Vorstellung. Muss das so sein? Gibt es keine andere, positive Antwort auf die Herausforderung Verdichtung? Geht man vom Bild der eingepflanzten Stadt St. Gallen aus, bekäme Zürich immerhin auch die Stiftsbibliothek . . . Das ist die «Counter City» nach der Vorstellung von Voegeli und Wyssmann, die diesen Namen aber auch auf den stets tickenden Zähler des Städtewachstums beziehen. Die ZHdK-Leute suchen nach Möglichkeiten, den Prozess der Verdichtung visuell auf positive Art zu kommunizieren.

Wie macht man die Chancen des Wachstums sicht- und erlebbar? Viel dazu ist im dichten Rahmenprogramm der nächsten Tage im hölzernen Haus zu hören und zu sehen. Wyssmann und Voegeli sehen ihr Anliegen in der Installation bestens umgesetzt: Als temporäre Verdichtung schränkt es den öffentlichen Platz vor der Hochschule zwar ein, wertet ihn aber durch die Veranstaltungen und Möglichkeiten des Verweilens zugleich auf.